Filmkritik – Walchensee Forever

Der Mond und die Reflektion des Mondes im sich kräuselnden Wasser des Walchensees. Ein Bild, in dem so viele Metaebenen mit anklingen: das Ding und dessen Abbild, dessen Reflektion, sodass es prototypisch für den Film stehen kann. Im Kopf bleiben viele solcher Bilder kleben, Fotografien, Home Videos, Archivmaterial und Jetztzeit-Aufnahmen vom Menschen, oder eher: Frauen, und Natur, verweben sich unweigerlich mit den eigenen, denen meiner Kindheit und der Kindheit meiner Eltern. Der Eröffnungsfilm des dokKA, „Walchensee Forever“, ist ein Autobiographischer Dokumentarfilm und zwingt somit dazu, wie die meisten Filme dieses Genres, sich parallel mit der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen. Du vergleichst dich, du wirst dir deiner Vergänglichkeit bewusst. Du gehst raus und fragst dich: Lebe ich das Leben, das ich leben möchte? Wohin gehöre ich wirklich?

Vier Generationen Frauen (und mit der kleinen Tochter der Regisseurin nun fünf), die am Walchensee, im Café am Walchensee, in Bayern, aufwachsen, ein Jahrhundert umspannend, und das künstlerische Medium, das es alles festhält, verewigt, „forever“: Fotografie, Film, Musik. Aus schwarz-weiß Fotografien und analogem Material, in denen sich die Menschen stelzenhaft, wie Marionetten, bewegen, wird verrauschtes, bunt eingefärbtes Video, wird klares, hoch aufgelöstes Digitalbild. Das allerdings auch durcheinander, weil wir die Generationengeschichte zwar chronologisch erzählt bekommen, zugleich jedoch die Mutter Anna und Oma Norma der Regisseurin Janna Ji Wonders in der Jetztzeit dabei beobachten, wie sie ihre Leben reflektieren, sinnieren, stocken, Widerstand leisten, wegen den Witterungsbedingungen abbrechen, und weitermachen.

Janna als Kind hält eine Videokamera auf die Oma und Mutter, bläulich eingefärbt, mit der sie selbstverständlich wackelt und ruckelt wie jedes Kind. Mama Anna weist sie an, stillzuhalten, das Bild sei sonst nicht angenehm anzuschauen. Wir erleben hautnah und anrührend im Home Video mit, wie sich hier auch das Medium weitergibt, das gemeinsame Erbe, da die Mutter selber Fotografin war, und auch ihr Vater Künstler und Fotograf. Vererbt wird allerdings auch eine innere Zerrissenheit, eine komplexe Gefühlswelt, die es einerseits weg vom Walchensee zum Abenteuer Erleben hinzieht, andererseits wieder zurück zum heimischen Boden – und dabei wird nie so ganz eine Entscheidung getroffen, es schwingt so hin und her wie ein Pendel, und immer wieder kommt das Pendel beim Walchensee zum Ruhen, dann bricht es wieder auf, in neue Gefilde.

Unvergesslich sind die Aufnahmen der Schwestern Anna und Frauke, auf die die Geschichte fokussiert, in den Sechzigern und Siebzigern, triefend mit allem, was wir uns unter dieser Zeit vorstellen, per se schmerzlich nostalgisch, weil das Narrativ über diese Zeit derart aufgeladen ist: Anna und Frauke, Musikerinnen in Trachten, reisen durch Mexiko, erleben Schamanismus und Peyote, sind in San Francisco in der Love & Peace (& Musik & Festival & Acid & Alle Nackt & Blumenkränze) Generation unterwegs, werden immer tiefer in die spirituelle New Age Szene gesogen, werden Anhängerinnen eines Gurus, reisen nach Indien zu einem Ashram, leben wochenlang nackt auf einer Insel in Griechenland, sind eng mit Rainer Langhans und der Kommune 1 verwoben.

Was mir besonders im Gedächtnis bleibt: die Gesichter dieser beiden Frauen. Gesichter, über die Haruki Murakami in „Die Unsterblichkeit“ (Forever!) schreibt, sie seien nicht unser wahres Ich, sie würden uns aufgedrückt, und wir uns gezwungen, uns mit ihnen zu identifizieren. Immer mehr, durch die konstante Bildkultur, in der wir leben. Keine Frage: in „Walchensee Forever“ sind es vor allem die Gesichter, die anziehen und faszinieren – und wie sich diese Gesichter verändern, der Prozess der Alterung, das Einfärben des Erlebten Lebens in Falten, Flecken und feinen Linien auf der Haut.

Norma, als nunmehr 104 Jahre alte Frau, der wir im Film beim Sterben zuschauen, hat Warzen, graue und braune Verfärbungen wie Zigarettenasche, auf den Gesichtszügen – ich kann mich dem nicht entziehen. Vielleicht Voyeuristisch, findet einer der Zuschauenden im Publikumsgespräch später, und sorgt sich um die Einwilligung der alten Frau – ein interessantes Phänomen, das bei Autobiografischen und anderen intimen Dokumentarfilmen, immer wieder auftaucht: die Frage nach der Verantwortung der Filmenden, wenn solche Gesichter auftauchen, wenn etwas intim wird. Weil wir (siehe Murakami) annehmen, dass wir unsere Gesichter seien, und deswegen verletzlich, verletzt werden können durch ein Film-Abbild.

Meinem Empfinden nach ist es genau andersherum und in vielen der Fälle, die ich erlebt habe, in denen die Voyeurismus- und die Verantwortungsfrage aufkommt (zum Beispiel eindringlich bei „FAMILIENLEBEN“ von Rosa Hannah Ziegler!), ist der gefilmte Mensch begeistert davon, gefilmt und somit verewigt zu werden. Was wollen wir denn wirklich mehr, wenn wir ehrlich sind, als ewig werden? Forever sein. Ob durch unsere Kinder, unsere Kunstwerke, oder eben einen Film, der unsere Geschichte erzählt, eine Fotografie, die uns festhält, die uns materiell beweist. Beweise, dass es dich gibt, Zitat Schlingensief. Die Unsterblichkeit, dadurch. Ich glaube, dass wir uns eher schämen, dahin zu schauen, wo es wehtut, in diesen Momenten, dass wir uns schämen, wie fasziniert, angeekelt, berührt und verwirrt wir davon sind, Norma so zu sehen, im Sterben. Wir können nicht umhin zu sehen, wohin es mit uns allen geht. Das macht Angst, das nennen wir dann Voyeurismus. Das kann uns nicht kalt lassen, wie ein Insekt zur Flamme gezogen wird, werden wir angezogen, gleichsam vom Hässlichen, wie vom Schönen, die sich in dieser Qualität auf paradoxe Art und Weise einen.

Die jungen Frauke und Anna (und Norma zuvor auch, wie in einer Kurzgeschichte von ihrem Ehemann eindringlich beschrieben) sind dagegen fast aufdringlich schön, aber eben nicht nur schön, viel mehr als „schön“. Sie haben etwas, von dem ich fast das Gefühl habe, es sei ausgestorben nach der 60er Bewegung, eine Ernsthaftigkeit, eine besondere porzellanfeine und zugleich harte Zeichnung der Gesichtszüge. Sie sehen stets aus wie Frauen in Antonioni Filmen, und ebenso sieht ihre Umgebung aus, als hätte damals wirklich alles so ausgesehen wie in den Auteur Filmen jener Zeit.

Besonders Frauke, die schließlich an Schizophrenie erkrankt und Suizid begeht, hat in ihrem Blick etwas so Faszinierendes, dunkles, angriffslustiges, kindlich junges und zugleich uralt weises. Starrt dich, den Zuschauenden, aus so vielen wie aus Marmor gemeißelten Schwarz-Weiß-Aufnahmen an, dass du dich wieder fast schämst, zurückzuschauen. Auffällig: sie bemühen sich selten angestrengt zu lächeln, wie die meisten mit ihren Duck Face Selfies oder „Cheeeeese“-Posen, heutzutage. Es ist auch Pose, natürlich, aber es fühlt sich gerade durch die offensichtliche Pose ungekünstelter an, in den Aufnahmen, in denen Anna mit Licht und Schatten malt. Dass die Gesichter nicht zu grinsenden Fratzen verzerrt werden, die eigentlich schützende Masken von der Intimität des Gesichtes sind, lässt uns tiefer hineinschauen, dorthin, wo verletzlicher, weil realer wird. Ich versinke in Fraukes Augen, immer wieder, und es gibt einen Moment, in dem ich den Eindruck habe, in sie verliebt zu sein, als hätte man mit mir die 36 Fragen der New York Times gemacht, nach denen sich Leute angeblich ineinander verlieben. Vielleicht meine ich auch, dass ich mich mit ihrem Gesichtsausdruck identifiziere, dass ich etwas von mir in ihr sehe. Vielleicht ist das unsere Faszination mit Gesichtern: wie wir uns spiegeln ineinander – wie der Mond im Walchensee.

Ich muss an den Archetyp der Wilden Frau denken, den Carola Pinkola Estés in ihrem Mammutwerk der 90er „Women Who Run With Wolves“ beschreibt. Solche Frauen sind das, wilde, unzähmbare, von Leben und Lebensgier nahezu brüllende Geschöpfe. Brüllen Müssen, weil es unmöglich ist in der Welt, wie wir (und damit meine ich hauptsächlich Männer) sie geschaffen haben, diesen Hunger zu stillen. Umso bitterer, dass im Laufe der Geschichte immer wieder Männer versuchen, dieses Wilde zu zähmen, sie sich zu eigen zu machen. Es könnte nur meine Auffassung sein, die natürlich auch von einem spezifischen Hintergrund kommt, aber meinem Eindruck nach kommen die Männer nicht gerade gut weg. Janna Ji Wonders wird sie später im Gespräch „einfach außen vor“ nennen, weil sie halt nicht Teil waren.

Ich sehe mir diese Männer an, der Künstler Opa, der Norma verließ, um alleine zu wohnen, der seiner Frau ihre Zerrissenheit vorwarf, ein auf mich unendlich selbstgefällig wirkender Rainer Langhans, der amerikanische, zurückgezogene Vater der Regisseurin, Jazon Wonders – allen fehlt etwas an Verantwortungsgefühl, an Empathie, an Kontur, sie bleiben Schemen, um die es nicht geht, wie Männer in Margarete von Trottas‘ Filmen (ich denke an sie, weil sie bei einem Berlinale-Publikumsgespräch schamlos auf die Frage eines Zuschauenden, ob Männer immer nur oberflächliche Frauenfiguren zeichneten und Frauen immer nur oberflächliche Männerfiguren, antwortete: „Ich weiß nicht, wie es mit anderen ist, aber meine Männerfiguren sind auf jeden Fall oberflächlich – und die finden das eigentlich auch ganz gut so“). Natürlich feiere ich das, denn charakterloses Beiwerk sind ja filmhistorisch meist nur Frauen. Diese nicht. Diese haben überschäumend viel Charakter & Empfindsamkeit & Geist.

Zu viel für das doch oftmals enge Korsett dieser Welt und unserer eingeschlossenen Scheuklappenperspektiven vielleicht, gerade was die Schwester Frauke angeht. Die Erzählung ihrer Psychose ist eindringlich, wir bekommen ihre Tagebücher vorgelesen, sehen ihre Zeichnungen – verstörend, weltentrückt, befremdlich. Zugleich, für mich, ganz persönlich, auch ganz bekannt, denn ich kenne selber drei Fälle von Psychose-Erkrankungen, in der eigenen Familie und denen meiner beiden engsten Jugendfreundinnen. Wie Frauke sich verhält und die Welt erlebt ist nahezu deckungsgleich damit, wie sich meine Freundin in ihrer Psychose verhielt und es später, glücklicherweise genesen, mit Worten umschrieb.

Da geht mir ein Schauer über den Rücken, Trauer, Faszination, alles zugleich, mischt sich. Wieder tut es mir weh, hinzuschauen, und ich kann nicht wegschauen. Ich kann nicht sehen, was du siehst, in diesem Moment, und es bricht mir das Herz: Keinen Ort für sich auf dieser Welt zu wissen. Das steht dahinter, vielleicht, das wird auch immer wieder abgefragt, in diesem Film: wo gehöre ich hin? Was (viel mehr als wo) ist (m)eine Heimat? Was, wenn sie nicht auf und von dieser Welt ist, was dann, was kann ich tun, gegen die übermächtige, übermannende Tragik, die das bedeutet? Mir war auf Erden nicht zu helfen, flüstert Heinrich von Kleist mir ins Ohr. Das, als Flüsterpost weitergegeben an so viele empfindsamen, leidenden menschlichen Seelen.

Hier kommen wir zu der existentialistischen Haltung und der Tonalität, die diesen Film und seine Figuren durchweg begleitet. Es geht um die ganz großen Fragen, so kleinteilig detailliert die Leben beschrieben werden, nichts wird als zufällig erachtet. Freier Wille, die Verantwortung über unsere Entscheidungen, die Last der Vergangenheit, die konstante Sinnsuche, der stete Aufbruch zu neuen Ufern, von denen sich eine Antwort erhofft wird, auf diese Fragen, auf den manchmal doch recht grauenhaften „Schwindel der Freiheit“, wie Kierkegaard es nannte, den wir nicht loswerden können.

Es scheint deshalb eine fast schon pathologisch obsessive Suche nach Transzendenz zu geben, gerade in den spirituellen New Age Bewegungen und dem Guru Worship der 60er. Diese Transzendenzsuche ist das Gegenteil der Medaille des Selbst-Immersiven des Egos, das sich gerade im wie besessen ständigen filmischen, fotografischen und schriftlichem Festhalten des eigenen Erlebten ausdrückt. Einerseits wollen wir dringend mehr sein als unsere körperlichen, durch unser Gesicht identifizierbaren Hüllen, andererseits wollen wir genau diese dringend verewigen, aufzeichnen, irgendwie wertvoll machen, ihre Vergänglichkeit überdauern: Identität sein. Ich denke: Das Gesicht selbst transzendiert gerade in und durch seine Veränderung, in seinem steten Prozesscharakter im Laufe dieses Films. Das Alt Werden und Sterben ist Transzendieren.

Möglichst friedlich beschreibt Anna das Sterben ihrer Mutter zur Freundin aus der Kommune 1, die mit Metastasen ans Bett gefesselt ist. Wir versuchen uns jedenfalls mit dem Unvermeidbaren anzufreunden: auf die Aussage Jannas, die Oma entfliehe ihr, alles sei so vergänglich, sagt die Oma (und viel mehr kann sie auch nicht sagen) nur: „ja ist halt so.“ Wenig tröstlich, eher abgeklärt, akzeptierend. Es muss sich abgefunden werden. Dass der Film diese existentialistische Grundhaltung hat, liegt in der Figur begraben – so wie in vielen Autobiographischen Filmen, beispielsweise so wie Melisa Üneri’s „Daddy’s Girl“ eine zum Schreien komische Komödie ist, weil der Vater so ein witziger, obgleich übergriffiger Rabauke. Figuren, viel mehr als ihre Leben, geben hier die Tonalität vor, denn theoretisch könnten sicher viele Leben auf humoristische oder existentialistische, dramatische oder witzige Art und Weise beschrieben werden. Wir sind es, die unserem eigenen Leben Haltung, Perspektive, Tonalität geben, mit unserer Einstellung.

Am Ende fragt Janna ihre Mutter, wo Heimat sei, und Anna sagt, es sei vielleicht nicht auf dieser Welt, aber müsste hier gefunden werden, es sei nur manchmal so schwer… so schwer… und sie weint, und ich verschwestere mich, und sehe wieder, dass es im Leben nicht darum geht, dass es nur eine richtige Entscheidung gäbe und viele, viele Falsche, die zu bereuen wären (fuck Kierkegaard!), sondern darum, jede Entscheidung mit voller Wucht zu leben, die Momente wertzuschätzen, im Hier und Jetzt zu sein, aber natürlich hat Anna recht: es ist so verdammt schwer, so oft, wir vergessen es, und dann ist es schon vorbei. Man sieht: der Film nimmt mich mit, eben auch, weil er sich mit meiner Haltung deckt, weil ein Film über die Generation meiner Filme ähnlich aussehen würde. Identität geschieht auch durch Identifikation: das Spiegelbild des Mondes im See.

Zuletzt sei da noch der Walchsensee, mit dem wir diese Überlegungen begannen, erwähnt, zu ihm zurückgekehrt, zum Ruhepol: die Natur, die über allem steht, und die pathetic fallacy („erbärmlicher Trugschluss“), wie es im Englischen genannt wird: wenn wir als Menschen in der Natur etwas erleben, was sich mit unserem Gefühlserleben deckt. Der Werther Komplex. Personifikation in der Natur. So ist der Walchensee mal wild, mal ruhig, mal windig, mal dunkle Nacht, mal helllichter Tag und Sonnenschein („ich erinnere mich an das Licht“, sagt Janna über ihre Kindheit; Fotografieren bedeutet: mit Licht malen), und beherbergt alle die Gefühle, alle die Komplexitäten, und alle die Frauen. Der Walchensee hat vor ihnen gelebt und überlebt sie. Oft erwähnt Anna im Interview mit ihrer Tochter, wie die Witterungsbedingungen gerade das Filmprojekt beeinflussen. Wer jemals draußen mit viel Wind gedreht hat, weiß es: Kunst und Natur lassen sich nicht trennen.

Oftmals, wenn mich die Angst vor der Vergänglichkeit existentiell überkommt, beruhigt mich nur eine intensive Meditation, in der ich mich selber sehe, wie ich zur Erde zurückkehre, sehr visuell vorgestellt, Teil der Natur werde, erkenne und akzeptiere, dass ich NUR Natur bin, nicht mehr als das, nicht weniger. Und in dem Moment denke ich: es ist andersherum. Der erbärmliche Trugschluss ist, dass wir meinen die Natur personifizieren zu müssen, weil wir gespalten von ihr seien, weil Natur nicht Person und Person nicht Natur sei. Was Heimat, Boden unter den Füßen – oder hier auch Füße im Wasser – zu haben bedeutet, ist, dass wir Teil der Natur sind, auch alle unsere Empfindsamkeiten sind Teil der Natur, und wir kehren zurück zu ihr. In dem Sinne sind wir alle forever im Walchensee, und Walchensee Forever.